Eltern wünschen sich mehr Wertschätzung für das, was sie für die Gesellschaft leisten
„Bei uns ist der Kindergarten in der Omikron-Welle versunken, die Kleinen sind daheim… Es reicht irgendwie langsam.“, erzählt eine Mama von 4 Kindern im Alter von 8, 7, 5 und 3 Jahren Anfang Februar 2022. Beide Eltern sind berufstätig und wechseln sich in der Betreuung der Kinder ab.
„Obwohl wir gerade zu dritt daheim positiv sind, hab ich mein geimpftes (täglich negativ getestetes) Kind in die Schule geschickt. Ich kann einfach nicht mehr. Und trotzdem plagt mich das schlechte Gewissen und ich hab Angst vor Anfeindungen und Unverständnis.“, berichtet eine andere Mama mit 3 Kindern im Alter von 8, 6 und 3 Ende Februar 2022.
Das sind nur zwei Beispiele für all jene Eltern, die „aus dem letzten Loch pfeifen“ und sich mit Selbstzweifeln plagen: „Warum sind wir so fertig? Alle anderen schaffen das doch auch.“
Bereits im Oktober 2020 (!) wies die Soziologin Ulrike Zartler in einer ZIB Nacht-Folge auf den Faktor „Zeit“ hin: „Mittlerweile sind viele Monate vergangen und viele Eltern sind einfach erschöpft, ausgelaugt und zermürbt (…).“[1] Nach weiteren 16 Monaten lässt die Beobachtung aus der Beratungspraxis den Schluss zu: Der „Wahnsinn“ ist so normal geworden, dass er nicht mehr als solcher wahrgenommen wird. Eltern an den Grenzen der Belastbarkeit reagieren in der Beratung erstaunt, wenn man sie darauf hinweist, was sie in den letzten beiden Jahren geleistet haben: „Aha, so hab‘ ich das noch gar nicht gesehen. Das war mir gar nicht so bewusst.“
Aus eigener Erfahrung, aus Erzählungen aus dem Umfeld und aus den Gesprächen mit Paaren in der Beratung wissen wir, dass die letzten zwei Jahre Spuren hinterlassen haben: „Das Ergebnis dieses schon seit 20 Monaten dauernden ‚Ausnahme-Alltags‘ sind Eltern, und insbesondere Mütter, die ausgelaugt und am Limit sind und oftmals schlicht nicht mehr können.“ bringt Zartler es im Jänner 2022 auf den Punkt.
Mit diesem Papier möchten wir daher dafür sensibel machen, dass
- …die Situation rund um das Virus mit allem, was dazugehört, eine enorme Mehrbelastung für Familien darstellt
- …diese Mehrbelastung den Paaren bzw. Familien oft nicht bewusst ist. Dadurch herrschen Selbstzweifel Unverständnis gegenüber der eigenen „Unfähigkeit“, den eigenen Problemen.
- … die Überlastung bzw. Belastungssituation keine Schicksale einzelner, weniger Familien sind. Es handelt sich hierbei vielmehr um ein kollektives Phänomen in unserer Gesellschaft. Betroffen sind Familien aus allen gesellschaftlichen Schichten.
Überblick
Wir blicken zunächst auf den Hintergrund, die Ausgangssituation, in der sich Familien in intensiver Familienzeit grundsätzlich befinden, Stichwort: „Rushhour des Lebens“.
Danach sammeln wir die vielfältigen Herausforderungen und Problemfelder von Familien während der Pandemie. Viele unserer Beobachtungen und eigenen Erfahrungen decken sich mit den Ergebnissen der Studie „Eltern und COVID-19“[2] von Ulrike Zartler und ihrem Team.
Eine Lösung können wir für diese Situation nicht anbieten. Wir versuchen aber, Impulse und Ansätze für eine Linderung zusammenzutragen.
Die Rushhour des Lebens
Die turbulente Lebensphase mit Berufseinstieg bzw. Karriereaufbau und gleichzeitigem Hausbau bzw. Gründung der Familie und damit der Versorgung von Kleinkindern wird gerne als „Rushhour des Lebens“ bezeichnet. Große Herausforderungen prägen diese Zeit – vor allem geht es um die Vereinbarkeit von Familie und Beruf. Die Eltern leiden unter chronischem Zeitmangel. Der Tag hat schlichtweg zu wenige Stunden für die lange Liste an Aufgaben. Dabei bleibt oft die eigene Persönlichkeit mit den eigenen Bedürfnissen auf der Strecke. Viele Eltern „kriechen am Zahnfleisch“, sie sind erschöpft und plagen sich mit Selbstvorwürfen. Sie sehnen sich nach Zweisamkeit und Erholung.
„Ausgehverbot“
… lautete der Betreff des E-Mails der Direktorin einer Volksschule an die Eltern der Schüler*innen vom Sonntag, 15. März 2020. Am 11. März 2020 rief die WHO die Pandemie aus, mit 16. März 2020 und dem Beginn des ersten Lockdowns wurden wir Eltern in den Ausnahme-Zustand katapultiert.
In der Anfangszeit kam es – grob gesagt – zu zwei unterschiedlichen Reaktionen.
Der Ausstieg aus dem Hamsterrad
Jene, die finanziell und persönlich abgesichert waren und genug Wohnraum zur Verfügung hatten, empfanden das verhängte Ausgehverbot oftmals als Entspannung, Entschleunigung, Entlastung – als wohltuenden Ausstieg aus dem Hamsterrad der täglichen beruflichen und freizeitlichen Verpflichtungen. Die Rushhour des Lebens kam für eine Weile zum Erliegen: „Endlich haben wir wieder Zeit füreinander!“
Verzweiflung, Ratlosigkeit und Überforderung
Für Alleinerziehende, Menschen in systemrelevanten Berufen bzw. Personen, die ihre Arbeit nun „einfach“ von zuhause aus erledigen mussten und viele andere eröffnete sich ein Feld vielfältiger zusätzlicher Probleme:
- Wer betreut mein(e) Kind(er), während ich arbeite?
- Bin ich eine schlechte Mutter/ein schlechter Vater, wenn ich mein Kind in die Schule/in den Kindergarten schicken muss?
- Wie kann ich Homeoffice, Homeschooling mit mehreren Kindern und die Betreuung kleinerer Kinder nebeneinander schaffen?
Der „Verkehr“ in der Rushhour nahm nochmals zu.
Zu Beginn war die Motivation bei den meisten Eltern bzw. Elternteilen hoch: „Gemeinsam schaffen wir das!“ Synergien zwischen Familien wurden geschlossen und man half zusammen, wo es nur ging. Es gab eine Perspektive, ein gemeinsames Ziel, ein ersehntes Ende der Situation.
Aus der Psychologie wissen wir, dass Angst und Alarmbereitschaft kurzfristig Energien mobilisieren. Wir sind wach, aufmerksam, können rasch und flexibel auf Gegebenheiten reagieren. Hält nun aber der Zustand der permanenten Alarmbereitschaft an, so kehrt sich dieser Effekt in sein Gegenteil um: Unsere Energie, Kreativität und damit die Leistungsfähigkeiten sinken. Sogar auf das Immunsystem wirkt sich ständige Angst aus: Wir werden anfälliger für Infekte. Nicht umsonst sagen wir „Angst lähmt“.
Mit dieser Entwicklung näherten sich beide Gruppen an. Bei unserem Paarseminar Ende Jänner 2022 meinte ein Vater: „Ich trau es mir fast nicht sagen – aber wir haben das Ganze zu Beginn echt genossen und ausgekostet. Wir haben mit den Kindern im Garten gewerkt, uns im neuen Haus wohl gefühlt. Uns hat nichts gefehlt. Aber jetzt – jetzt reicht es. Es ist genug. Wir können nicht mehr.“
Konkrete Herausforderungen…
Was genau waren bzw. sind die konkreten Herausforderungen und Fragen für Familien in dieser Zeit der Pandemie? Was hat die Situation zur Belastung gemacht? Wir versuchen hier, einen Überblick über die Problemfelder zu bieten. Diese lassen sich nicht klar voneinander abgrenzen, sie gehen ineinander über bzw. bedingen einander.
Den Fokus legen wir auf Familien bzw. Alleinerziehende mit Kindern zwischen 0 und 14 Jahren. Hier ergaben sich hinsichtlich der Betreuungsnotwendigkeit der Kinder die größten Herausforderungen. Wir betrachten Familien, wo ein oder mehrere Erwachsene ihre Berufsarbeit im Homeoffice erledigten.
Tagesstruktur
Normalerweise gibt das Außen eine gewisse Tagesstruktur vor. Der Unterrichtsbeginn, das Einstempeln, … sind klar definiert. Das bietet Orientierung und damit eine gewisse Sicherheit.
Mit dem Wegfall dieser außengesteuerten Tagesstruktur mussten Familien ihren eigenen Rhythmus finden. Wann stehen wir auf? Wann lernen/arbeiten wir? Wann essen wir? Wann lassen wir die Arbeit sein und starten in die Freizeit? Wie gestalten wir als Familie unsere freie Zeit?
Wohnraum, der Wegfall vom Unterstützungssystem und damit verbunden das soziale Miteinander in der Kernfamilie
Normalerweise verbringen wir nur einen gewissen Anteil unserer Lebenszeit gemeinsam in unseren eigenen vier Wänden. Wir sind an unserem Arbeitsplatz, die Kinder sind in den Institutionen, wir besuchen Freunde oder Verwandte, wir haben unsere Vereine und gehen unseren Freizeitbeschäftigungen nach, wir haben zum Teil ein Unterstützungssystem in der Betreuung unserer Kinder (Großeltern, Leih-Omas, Babysitter*in).
Mit dem Ausruf der Pandemie wurden wir radikal auf unseren eigenen Wohnraum eingeschränkt und auf unsere Familienmitglieder zurückgeworfen. In vielen Familien wurde der Esstisch zur Schulbank, zum Bürotisch, zum Freizeitort. Eltern versuchten, Klassenkamerad*innen und Freund*innen zu ersetzen. Besonders bei größeren Familien vor allem im städtischen Bereich stellte sich die Frage: Wie können wir unseren Wohnraum bestmöglich nutzen? Wo sind Ruhebereiche? Wo Arbeitsbereiche? Wo Spiel- und Bewegungsbereiche? Wie können wir uns aus dem Weg gehen, wenn wir das Bedürfnis nach Allein-Sein haben? Wie teilen wir unsere Aufgaben im Haushalt auf?
Unsicherheit und Unklarheit
Normalerweise ist unser Alltag gut planbar. Wir wissen, wann schulfreie Zeiten sind, wir wissen, wann Familienzeiten sind. Es gibt Arbeitstage und freie Tage. Auch diese längerfristige Planbarkeit bietet Orientierung und vermittelt Sicherheit.
In den letzten beiden Jahren mussten wir lernen, mit einem hohen Maß an Unsicherheit und Unplanbarkeit umzugehen. Können wir den Geburtstag unseres Kindes feiern? Kann ich nächste Woche arbeiten gehen oder ist ein Kind in Quarantäne? Was wird im Sommer sein? Können wir auf Urlaub fahren? Welche Regelungen gelten gerade – und wie lange?
Der Umgang mit den Maßnahmen
Normalerweise haben sich Familien bzw. Eltern ein gemeinsames Wertegerüst erarbeitet. Wir haben eine ähnliche politische Einstellung, haben hinsichtlich gesundheitlicher Fragen eine gemeinsame Basis oder haben uns mit unseren unterschiedlichen Ansichten arrangiert.
Nun kommt eine Reihe vielfältiger neuer Fragen hinzu, die innerhalb der Familie ausgehandelt werden müssen. Wie und in welchem Ausmaß möchten wir uns und unsere Kinder vor einer möglichen Infektion schützen? Welche Maßnahmen sind uns besonders wichtig, welche wollen wir uns und unseren Kindern zumuten und vor welchen wollen wir sie schützen? Lassen wir die Kinder zuhause oder gehen sie in die Schule? Was ist, wenn sich unser Kind gegen das Testen sträubt? Welches Risiko gehen wir ein, wenn wir im Sommer in den Süden fahren? Was bedeutet das für uns, wenn sich ein Elternteil impfen lässt, der andere nicht? Lassen wir die Kinder impfen? Wie gehen wir damit um, wenn wir uns da nicht einig sind? Wie gehen wir mit (un)geimpften Menschen in unserem Umfeld um? Laden wir zu Weihnachten die Familie ein? Wie gehen wir generell mit unseren unterschiedlichen Positionen um?
… und woran wir die Überbelastung merken
Die Nachfrage nach Beratung ist deutlich gestiegen. Die psychiatrischen Abteilungen in diversen Spitälern sind ausgelastet. Ulrike Zartler beschreibt dazu die „Beschränkung eigener Bedürfnisse in Richtung einer Selbstoptimierung bis hin zur Selbstaufgabe“ und anderer Stelle: „Mittlerweile, nach wiederholten Lockdowns, werden zunehmend Gefühle von Verzweiflung und Resignation artikuliert.“ Das Bemühen der Erwachsenen (laut der Studie von Ulrike Zartler übrigens überwiegend der Frauen), der eigenen Berufsarbeit und den Bedürfnissen der Kinder gerecht zu werden, wurde sehr bald zu einer Zerreißprobe.
Die Reduktion der sozialen Kontakte auf die Kernfamilie führte in vielen Familien nach einiger Zeit zu einem „Lagerkoller“ – einer ständig angespannten und aufgeheizten Stimmung. Geschwisterstreitigkeiten raubten Eltern den letzten Nerv. Oft war einfach keine Geduld für den Partner, die Partner*in und die Kinder aufzutreiben. Sehr viele Familien hatten wenig bis keine Möglichkeiten, sich im Freien zu bewegen, zu spielen. Freiraum und Zeit für sich selbst existierten kaum bis gar nicht mehr. Die Eltern waren und sind immer noch überlastet, ausgelaugt, überfordert – an ihren Grenzen oder schon lang darüber hinaus.
Außerdem haben sie vielfältigste Ängste: Beschrieben werden „Ängste um die Gesundheit aller Familienmitglieder und die Befürchtung von Bildungsnachteilen für die Kinder.“ Hinzu kommen unserer Wahrnehmung nach noch die Ängste vor einer Impfpflicht, dem damit verbundenen Druck und der sozialen Ausgrenzung und vor einer Kriminalisierung einer höchst persönlichen Gesundheitsentscheidung.
Weitere angrenzende Problemfelder
Da wir den Fokus auf Familien bzw. Eltern legen, behandeln wir angrenzende Problemfelder nicht. Aufzählen möchten wir sie trotzdem:
- (Klein-)Kinder in der Pandemie – Stichworte: Hirnentwicklung, Nähe und Distanz (vgl. dazu Gerald Hüther), Kinder in den Institutionen (zB. Eingewöhnung, Masken, Testen)
- Jugendliche in der Pandemie – Stichworte: Einsamkeit, Fehlen der Peergroup, Medienkonsum, Sucht
- Schwanger-Sein in der Pandemie
- Ungeimpften ab dem Lockdown für Ungeimpfte im November 2021
Was kann nun nach zwei Jahren Pandemie helfen?
Was brauchen Eltern nun? Was können wir in der Beratung bzw. in Seminaren für die Eltern leisten? Ulrike Zartlers Antwort: „Eltern wünschen sich Wertschätzung für das, was sie für die Gesellschaft leisten.“ Das klingt fürs Erste banal, jedoch trifft es den Nerv vieler Mütter und Väter. Es braucht eine ehrliche Würdigung der unglaublichen Anstrengung. Frau Zartler fand dazu mir gegenüber die persönlichen Worte: „Als Mutter von drei Kindern sind Sie eine Heldin!“ Dieses Gesehen-Werden hat mich zu Tränen gerührt.
Darüber hinaus können weitere Ansätze und Fragen hilfreich sein:
- Was in meinem Leben ist mir wirklich wichtig? Was möchte ich zurück? Worauf kann ich verzichten? Wie kann ich meinem Leben eine neue – meine ganz eigene – Richtung geben? Erlebe ich als sinnvoll, was ich mache? Möchte ich mich evt. sogar beruflich verändern?
- Drastische Reduktion vom Medienkonsum, Sozialen Medien è Kontakte zu Menschen aufleben lassen und pflegen
- Alt, aber bewährt: Bewegung/Sport im Freien, an der frischen Luft
- Ermutigen, sich Auszeiten zu ermöglichen und diese zu zelebrieren
- In unsicheren Phasen nicht zu weit nach vorne blicken, sondern jeden Tag aufs Neue anschauen und sich an Beppo Straßenkehrer aus Momo orientieren: „Wenn er so die Straßen kehrte, tat er es langsam, aber stetig: Bei jedem Schritt einen Atemzug und bei jedem Atemzug einen Besenstrich. Dazwischen blieb er manchmal ein Weilchen stehen und blickte nachdenklich vor sich hin. Und dann ging es wieder weiter: Schritt – Atemzug – Besenstrich.“
- Ermutigen, über Gefühle zu reden – eine Sprache für das zu finden, was im Inneren passiert. Das schafft Nähe und ist die Grundlage dafür, dass wir Verständnis füreinander entwickeln und zeigen können.
Wenn jetzt mit 5. März 2022 das (vorläufige) Ende der Maßnahmen in den meisten Lebensbereichen ausgerufen wurde, ist dieses Papier dann überflüssig?
Nein! Aktuell sind nach wie vor viele Familien in Quarantäne. Andere erleben bereits eine Erleichterung. Bei anderen wiederum kommen die Probleme erst jetzt ans Licht, weil der Druck nachlässt. Unsere Seele ist langsamer, sie reagiert oft zeitverzögert. Und so braucht es jetzt Zeit, das alles zu verarbeiten.
Und: Wir wissen nicht, was der Herbst bringt…
Diesen Text haben geschrieben:
Mag. Peter Pimann, MAS – psychosozialer Berater und Referent für Paar-Seminare bei BEZIEHUNGLEBEN.AT
Dipl.-Päd. Nina Pimann, BEd – Referentin für Paar-Seminare bei BEZIEHUNGLEBEN.AT und DiA-Doula
Gemeinsam sind sie Eltern von drei Buben (geb. 2011, 2013 und 2015).
Ottensheim, März 2022
[1] Ulrike Zartler im ZIB-Nacht-Interview am 19.10.2020, https://youtu.be/f_yaCA71AwA?t=155
[abgerufen am 23.2.2022]
[1] https://cofam.univie.ac.at/eltern-und-covid-19/ bzw. „Nicht gesehen und nicht gehört: Familien und Eltern in der Corona-Pandemie“ https://impact-sowi.univie.ac.at/faecher/soziologie/nicht-gesehen-und-nicht-gehoert/.